
Heute bin ich mit meiner Klasse am Ende des Schultages im Sitzkreis zusammengesessen. Nachdem wir alle ganz zufrieden ein Eis geschleckt haben mit dem wir gefeiert haben, dass die Schularbeiten für dieses Schuljahr geschafft sind. Denn feiern ist wichtig. Viel zu selten feiern wir die Erfolge oder das Geschafft-Haben.
Du bist auch froh, dass die Schularbeiten vorbei sind?, fragen mich die Kinder. Oh ja, weil ich keine Schularbeiten bräuchte, um zu wissen, wo meine Kinder in ihrem Lernen stehen. Irgendwie habe ich das Gefühl, Noten und Schularbeiten brauchen wir für viele Eltern, weil sie mir als Pädagogin oft nicht glauben würden, wie ich ihr Kind sehe.
Ich weiß genau, welche Kinder lernen, weil sie neugierig sind. Weil sie gerne Neues dazulernen. Weil sie die Erfahrung gemacht haben, wie toll es sich anfühlt, etwas geschafft zu haben. Weil sie durchgehalten haben und sie anfangs nicht wussten, wie sie das hinbekommen sollen. Dazu bin ich Lehrerin. Um anzuleiten, zu begleiten, hinzuführen in Eigenständigkeit.
Ich wünsche mir, dass jedes Kind das Glück erfährt, dass es soooo viel schaffen kann. Mit Durchhaltevermögen. Mit Unterstützung, die es sich holt. Denn die Erfahrung etwas Neues hinzubekommen prägt unser Leben, wie wir unser Leben gestalten werden. Sehen wir uns den Umständen ausgeliefert, tun was geht und funktionieren bloß? Oder fühlen wir uns als Erschaffende im Leben, als jemand, der etwas dazulernen, ändern kann und auch die innere Power entwickelt hat, um diese Momente der Anspannung und des Drucks durchzuhalten.
Meine Klasse hat sehr viele Freiräume, solange die Arbeitshaltung da ist.
Das bedeutet, dass jede und jeder in der Klasse das Recht hat zu lernen, denn dazu sind wir in der Schule. Wer stört, nimmt den anderen die Möglichkeit zu lernen und hier setze ich die Grenze.
Morgens startet meine Klasse mit einem Lernfrühstück. Die Kinder kommen ab 7 Uhr 15 - nein, die Uhrzeit ist leider kein Scherz - in das Klassenzimmer. Dort können sie ankommen, sich austauschen. Wer will, startet schon mit Warm-up Aufgaben im Lesen, Rechen, Schreiben. Um 7 Uhr 30, wenn der offizielle Unterricht in der gesamten Schule startet, läute ich unser Windspiel. Ruhe kehrt ein. Jedes Kind arbeitet nun an Arbeitsaufträgen, die an der Tafel stehen. Für Fragen bin ich da. Die Kinder dürfen auch im Flüsterton einander helfen, was bedeutet, dass nur das eine Kind, mit dem ich flüstere, mich verstehen kann.
Wer fertig ist mit dem Lernfrühstück, darf frei arbeiten. Das bedeutet, jedes Kind vertieft sich in einem Interessengebiet, das es selbst gewählt hat. Ich habe Freiarbeitsboxen und Bücher zur Auswahl. Derzeit arbeiten einige Burschen an den Fahnen der Welt, manche Kinder lesen vertieft, andere gestalten eine Seite in ihrem Sachunterrichtsheft mit Inhalten, die sie sich merken möchten. Der Auftrag an die Kinder in der Freiarbeit lautet: Lerne etwas dazu. Nach der Freiarbeit sollst du mehr wissen oder können als davor. Deshalb dürfen die Kinder auch an Kunstprojekten arbeiten. Sehr oft probieren sie nach der Einführung einer neuen Technik das Gelernte noch einige Male aus, bis sie das Kunstwerk gestaltet haben, mit dem sie zufrieden sind. Deshalb kann es durchaus passieren, das neben einem rechnenden Kind die Sitznachbarin die Malsachen auspackt und zu gestalten beginnt. Ruhig, achtsam, zufrieden. Ein Junge meiner Klasse wollte nun Schattierung und Schattenraum einer Kugel zeichnen. Dank Beamer und Internet gab es da ganz viel Inspiration - für ihn uns noch fünf weitere Kinder, die das nun auch probieren wollten. Mittlerweile konstruieren sie auch Schatten für Würfel und Pyramiden.
Gegen 8 Uhr endet das Lernfrühstück und nun nähren wir unseren Körper: jetzt ist Jausenzeit, denn die meisten Kinder kommen ohne gefrühstückt zu haben in meine Klasse. Ich kann es ihnen nicht verdenken, dass sie so früh daheim noch keinen Bissen runterbekommen haben.
Wir wissen wir, dass der frühe Schulbeginn für das Lernen von Kindern hinderlich ist und doch gibt es kaum Schulen in Österreich, die den Schulbeginn den Bedürfnissen der Kinder und Jugendlichen anpassen. Daher tue ich, was ich als Lehrerin kann, um die bestmögliche Lernumgebung für meine Kinder zu schaffen.
Ab 8 Uhr 30 geht es an neue Lerninhalte. Um 9 Uhr 30 gehe ich bei fast jedem Wetter mit meiner Klasse in den Schulgarten, denn Kinder brauchen frische Luft, den Ortswechsel und Bewegung. Ich erwarte auch nicht, dass Kinder 50 Minuten still sitzen, das ist gegen ihre Natur. In Erarbeitungsphasen ist es natürlich nötig sitzen zu bleiben und konzentriert mitzudenken. Ein Wechsel aus Sitzkreis am Boden und das Sitzen am Sessel tut meinen Kindern immer wieder gut. Freiarbeit ist immer dann dran, wenn die Arbeiten, die für alle gelten, erledigt sind. Einerseits um die Zeit zu nutzen und andererseits, um Langweile vorzubeugen. Mein Schultagesablauf hat sich auch erst durch ausprobieren, beobachten, revidieren und auf die Kinder eingehen so entwickelt, wie er jetzt für diese Klasse und mich passt.
Am Ende des Tages ist mit wichtig, dass jedes Kind ein Erfolgserlebnis gehabt hat. Das muss nicht groß sein. Und oft wird es auch zwischenmenschlicher Natur sein, denn die größte Herausforderung ist das subtile Führen der Kinder in eine respektvolle Klassengemeinschaft. Achtsames Miteinander. Nicht gleich explodieren, weil dich jemand angeschaut hat. Grenzen mit Worten statt Händen und Füßen setzen. Themen miteinander klären ohne gleich zu petzen. Hilfe bei mir holen, wenn ich es allein nicht schaffe einen Konflikt zu bewältigen.
Wenn du jemals am Ende eine Kinderparty froh warst, dass die Kinder gegangen waren, weil der Stress der Verantwortung von dir abgefallen sind, dann kannst du dir etwa vorstellen, wie sich die meisten Lehrerinnen und Lehrer nach einigen Stunden Unterricht fühlen. Natürlich haben wir den Beruf erlernt und unsere Handwerkszeuge. Und trotzdem ist jeder Tag aufs Neue fordernd, denn im Gegensatz zu einer Kinderparty sind die Kids nicht freiwillig in der Schule, sondern mussten zu früh raus und würden eigentlich viel lieber spielen. Und das fast täglich.
Da kommen wir Lehrer und Lehrerinnen ins Spiel.
Wir leiten an. Begleiten. Machen neugierig. Helfen, wenn alles zu viel und schwierig erscheint. Feiern mit den Kids ihre Erfolge. Unser Vorbild prägt die Kinder, genauso wie das Vorbild der Eltern, Großeltern... aller bedeutenden Bezugspersonen. Ich baue zu den Kindern eine gleichwertige Beziehung auf. Als Menschen sind wir gleich wertvoll. So gehen wir auch miteinander um. Und doch sind wir nicht gleichrangig, denn ich habe einen anderen Auftrag, eine Verantwortung in der Schule. Diese Klarheit gibt Kindern Sicherheit. Sichere Kinder können sich entspannen. Entspannte Kinder sind offen, zu lernen und Neues, auch mal Komplexeres, auszuprobieren.
Wenn wir es schaffen, in Kindern das ICH WILL aufrecht zu erhalten, dann brauchen wir keine Noten. Dann will ein Kind Neues lernen, genauso wie es krabbeln und laufen lernen wollte. Jedes Kind hat das ICH WILL in sich. Es muss nur wollen dürfen, wann es selbst will. Und Freiräume haben sein ICH WILL auszuprobieren, Fehler zu machen, durchzuhalten, dranzubleiben, um irgendwann zu strahlen: ICH HABE ES GESCHAFFT. Es braucht Feedback, Unterstützung, Inspiration. Dazu haben wir derzeit nicht das optimale Schulsystem. Wir haben auch ein Gesellschaftssystem, in dem sehr viele Menschen nicht glücklich sind. Doch wer weiß?
Geben wir unseren Kindern ihr ICH WILL und ICH MACHE zurück.
Machen wir unsere Kinder zu selbstbewussten Menschen.
Menschen, die Neues wagen.
Menschen, die durchhalten.
Menschen, die Welt zu verändern.
Mögen wir alle Wegbereiterinnen und Wegbereiter für Macherinnen und Macher der neuen Welt sein.
Von Herzen,
Sigrid
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